Die Angst vor Inklusion ist groß und berechtigt

Die Welt vom 26.07.2013

Ab 1. August können Eltern in Niedersachsen ihre behinderten Kinder auch auf Regelschulen schicken. Der Rechtsanspruch wird die Schullandschaft so gravierend verändern wie keine Maßnahme zuvor. Von Thomas Vitzthum

Es ist für sie noch einmal ein Neuanfang. Karin Frank-Gerstung ist 57 Jahre alt. Und doch ist es ein wenig so, als würde sie ihren Beruf neu lernen, neu begreifen. "Mein Denken und Handeln ändern sich. Ich lerne, den Unterricht ganz neu zu organisieren. Mein Blick auf meinen Beruf als Ganzes hat sich geändert", sagt die Lehrerin am Gymnasium Andreanum in Hildesheim, wo sie Deutsch, Geschichte und evangelische Religion unterrichtet.

Mit Beginn des Schuljahres 2013/14 in eineinhalb Wochen wird sie Leiterin einer besonderen fünften Klasse, einer Inklusionsklasse (Link: http://www.welt.de/117209226) . Fünf Kinder mit Förderbedarf gesellen sich zu 16 anderen. Drei haben eine geistige Behinderung, zwei Probleme beim Lernen. Keines von ihnen wird, nach derzeitiger Prognose, je ein Abitur schaffen. Dennoch sind sie da, machen aus dem Gymnasium quasi eine Gemeinschaftsschule. "Es ist ihr Kinderrecht", sagt Karin Frank-Gerstung.

Am 1. August tritt in Niedersachsen ein Rechtsanspruch in Kraft, der es Eltern freistellt, ihre Kinder auf einer Regel- oder einer Förderschule anzumelden. Fast 490.000 Schüler mit Förderbedarf gibt es in Deutschland. In Niedersachsen sind es 35.000. Die freie Wahl markiert einen Paradigmenwechsel, zu dem sich Deutschland schon 2009 durch die Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtet hat.


Rechtsanspruch in einigen Ländern

Die Länder vollziehen diese Veränderung nicht gleichzeitig. In einigen wie Berlin, Hamburg und Schleswig-Holstein gilt mittlerweile der Rechtsanspruch auf freie Wahl (Link: http://www.welt.de/112232564) . Andere führen ihn in den nächsten Jahren ein. Zumindest theoretisch. Praktisch gibt es Einschränkungen. Schulleitungen nehmen oft keine behinderten Schüler auf, indem sie auf bauliche oder personelle Probleme verweisen.

Diese Ablehnung ist durch die jeweilige Landesgesetzgebung gedeckt. Manchmal müssen Schüler die Schule nehmen, die ihrem Wohnort am nächsten liegt, manchmal entscheiden die Schulbehörden für die Eltern, diese haben lediglich ein Einspruchsrecht. Dagegen ist das niedersächsische Modell klar und einfach. Im Prinzip.

Denn es gilt zunächst nur für die erste und die fünfte Jahrgangsstufe. Quereinstiege sind kaum möglich. Wandel durch Mitwachsen. Zudem können die Schulen Kinder mit körperlichen Defiziten ablehnen. Die Schulen sind baulich oft nicht in der Lage, Rollstuhlfahrer, Kinder mit spastischen Lähmungen oder ähnlichem aufzunehmen. Umbauten sind teuer. Das Geld ist nicht da. Auch, monieren Kritiker, weil es weiter Förderschulen geben wird.


Länder stöhnen unter der Last

Die meisten Bundesländer werden sich beide Strukturen leisten: inklusive Regelschulen und spezielle Förderschulen. Sie stöhnen freilich unter dieser Last. Rufen nach dem Bund. Doch so lange das Grundgesetz dem verbietet, sich in die Schulpolitik einzumischen, kann kein zusätzliches Geld fließen; nicht für Personal, in das laut Berechnungen des Bildungswissenschaftlers Klaus Klemm zusätzlich bundesweit 660 Millionen Euro jährlich fließen müssten.

Gleichzeitig müssten die drei Milliarden Euro, die in das Förderschulwesen gehen, umgeleitet werden. Da wird klar, dass hier keine Evolution ohne Revolution zu haben ist. Und damit sind die Schulen baulich noch gar nicht auf die neuen Schüler eingestellt. Viele verweisen auf das Konjunkturprogramm vor einigen Jahren, mit dem viele Schulen Mensen bauten oder sich energetisch sanierten. Ein solches Programm wäre nötig, aber rechtlich nicht mehr möglich. Juristen prüfen zwar Möglichkeiten, einfache Wege wird es aber nicht geben. Kinder und Eltern müssen warten.


Gymnasium als richtige Schule

Jonas (Name geändert) ist eines der fünf Kinder, die in die neue Inklusionsklasse am Andreanum gehen werden. Lange hatte seine Mutter sich umgesehen, hatte nach einer passenden Förderschule gesucht, an die neuen Oberschulen im Land gedacht oder an eine Gemeinschaftsschule. An ein Gymnasium dachte sie erst nicht. "Aber die neuen Lehrer sind an die Grundschule gekommen und haben für ihre Sache geworben. Das Team hat mich überzeugt, dass das Gymnasium der richtige Platz für meinen Sohn ist", sagt Jonas'* Mutter.

Sie hofft, dass er einen Regelschulabschluss schaffen wird. Welchen auch immer. An den Förderschulen ist oft nicht einmal ein Hauptschulabschluss vorgesehen. Ohne Abschluss bleibt meist nur der Weg in eine Behindertenwerkstätte.


Im Unterricht der Inklusionsklasse

Weil keines der förderbedürftigen Kinder mit einem anderen zu vergleichen ist, braucht jedes sein eigenes Curriculum. Im Unterricht der Inklusionsklasse wird neben dem Klassen- oder Fachlehrer oft auch ein Förderlehrer anwesend sein, dazu kommen Betreuer für jene, die etwa nicht allein auf die Toilette gehen können. Sie müssen von den Eltern beim Sozialamt beantragt werden.

Das Konzept – Lehrer steht vor der Klasse und spricht – ist damit schon rein organisatorisch hinfällig. Karin Frank-Gerstung absolviert derzeit einen zweijährigen Aufbaustudiengang an der Universität Hildesheim. Dort lernt sie, wie das überhaupt geht, inklusives Unterrichten. "Das Studium hat mir die Augen dafür geöffnet, dass wir es immer schon mit ganz heterogenen Klassen zu tun hatten", sagt sie. "Unser Unterricht berücksichtigt zu oft nur die Schüler im mittleren Leistungsspektrum, leider. Deshalb ändert sich jetzt auch mein Blick auf die ,normalen' Klassen."


Schwierigkeiten für Lehrer

Vielen Lehrern macht die Inklusion Angst, weil sie sehen, dass sie sich – schon wieder einmal – verändern und umstellen müssen, sie müssen weit stärker zu Team-Arbeitern werden. "Damit Inklusion gelingt, müssen Lehrer, Sonderpädagogen und Sozialarbeiter im Team zusammenarbeiten, sich gegenseitig beraten und ergänzen", sagt die Erziehungswissenschaftlerin Britta Ostermann, die den Weiterbildungsstudiengang an der Uni Hildesheim leitet. "Wir brauchen Lehrer, die die Unterschiedlichkeit der Schüler als Chance begreifen."

Das klingt gut, political correct. Doch die Angst vor Überforderung ist groß und berechtigt. "Als der evangelische Schulträger vor zwei Jahren entschied, dass wir die Inklusion umsetzen, gab es große Bedenken im Kollegium", sagt Frank-Gerstung. Inzwischen seien sie weitgehend ausgeräumt.

Zwei Lehrerinnen entschieden sich zum Besuch des Aufbaustudiengangs. Alle neun Lehrer, die die Inklusionsklasse unterrichten werden, ließen sich auf den Besuch von Fortbildungen, Seminaren ein. Eine Pflicht für eine solche Fortbildung gibt es in Niedersachsen nicht. Wie auch in keinem anderen Bundesland.


Individuell auf Schüler eingehen

Und auch die Ausbildung der nachwachsenden Lehrergeneration hinkt beim Thema Inklusion hinterher. "Ich selbst fühle mich wie viele meiner Kommilitonen nicht gut darauf vorbereitet, was da auf uns zu kommt", sagt Sophia König, die in Hildesheim Lehramt Grundschule studiert.

Was den Studenten fehle, sei weniger die Theorie zum Thema Inklusion. "Was uns beschäftigt, sind Fragen des Zeitmanagements; wie wir es schaffen, individuell auf die Schüler einzugehen, wie es uns gelingt, zu Hause in überschaubarer Zeit, für jeden eigene Materialien herzustellen."

Die Ideale werden den angehenden Lehrern vermittelt und viele, auch Sophia König, stehen hinter ihnen. Sie hat im Praktikum die Erfahrung gemacht, wie befriedigend inklusiver Unterricht in Gruppen etwa nach der Jigsaw-Methode (Gruppenpuzzle) sein kann.


Im kleinen Kreis Mut aufbauen

Wo leistungsschwache Schüler, die sich nichts zutrauten, plötzlich zu Experten für ein Thema wurden, weil sie nicht vor einer Klasse mit 25 Kinder standen, sondern im kleinen Kreis Mut und Expertise aufbauen konnten, die sie dann anderen vermittelten. Doch nicht jeder Tag wird so gut enden, Unterricht läuft oft nicht nach idealen Maßstäben ab. "Wir wissen einfach nicht richtig, wie wir uns täglich adäquat auf den Unterricht vorbereiten sollen", sagt König.

Karin Frank-Gerstung bemüht sich um Gelassenheit: "Wir werden unsere Erfahrungen machen. Und nachsteuern. Angst habe ich keine, das würde mich zu sehr hemmen." Man habe schließlich auch eine Verpflichtung. "Die Schule muss Vorreiter sein, dann verändert sich auch Gesellschaft."